Eine Mark Eintrittsgeld pro Kuh

Unter einem mächtigen Baum steht ein Gebäude
Die ehemalige Molkerei Wimbern – die Rampe, die zum Entladen der Milchkannen genutzt wurde, existiert heute noch.

Die Nutzung der Milch von Ziegen, Schafen und Kühen begann vor mehr als 8000 Jahren im Vorderen Orient – zu einer Zeit, in der die Menschen bereits einige tausend Jahre mit der Haltung von Nutztieren zur Fleischversorgung vertraut waren. Neben der Haltung von Rindern zur Milcherzeugung wurden bereits erste Milchprodukte hergestellt. Kein geringerer als der bekannte und einflussreiche Philosoph Aristoteles (* 384 v. Chr.; † 322 v. Chr.) schrieb das erste Fachbuch über Milchverarbeitung.

Von Griechenland aus gelangte das Wissen rund um die Milch zu den Römern. Schon bald zählte Käse im alten Rom zur Volksnahrung und war neben Rosinen und Oliven eiserner Bestandteil des militärischen Proviants. Als solcher gelangte er schnell in die besetzten Provinzen.

Im Mittelalter beschäftigten sich die Klöster Deutschlands und Mitteleuropas intensiv mit der Landwirtschaft und ihren Erzeugnissen. Zwischen 1115 bis 1200 wurden Käsesorten wie Gruyere, Chester, Gouda, Edamer, Handkäse und Emmentaler erstmals erwähnt. Ohne die Aufzeichnungen der Mönche wäre sicher manches Wissen verloren gegangen, denn es sollte noch Jahrhunderte dauern, bis sich die Milcherzeugung und -verarbeitung zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig entwickeln würde.

So wurden bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Rinder in Deutschland in erster Linie als Arbeitstiere und zur Fleischnutzung gehalten. Die anfallende Milch war ein wichtiger Bestandteil der sich selbst versorgenden ländlichen Bevölkerung. Sie wurde überwiegend zu Quark, Käse oder Butter weiterverarbeitet.

Die ersten Molkereien verarbeiteten nur die Milch zu Käse und den Rahm zu Butter. Die übrig gebliebene Magermilch gaben sie den Bauern zur Fütterung zurück. Erst mit der Weiterentwicklung der Molkereitechnik (Zentrifugen, Haltbarmachungsverfahren) konnten ab Ende des 19. Jahrhunderts größere Mengen von den Molkereien verarbeitet werden.

Im Jahre 1870 endete mit dem Beginn der Ruhrtal-Eisenbahn die Posthalterei Am Schlünder, eine für die Familie des Posthalters Christian Schlünder schwierige wirtschaftliche Situation. Im Zeitalter der Industrialisierung versuchten viele Grundbesitzer, andere lohnende Erwerbsquellen zu erschließen – so auch die Familie Schlünder.

1880 kaufte Christoph Schlünder (eventuell war es auch sein Vater Christian) von Johann Tillmann die Wasser-, Dampf-, Mehl- und Sägemühle am Graben – nebst Stallungen und Wohnhaus für 15.300 Goldmark. Wie aus einem Inventarverzeichnis hervorgeht, gehörte dazu auch ein benachbartes Fachwerkhaus und ein Eiskeller.

Noch im Jahre 1880 baute Christoph Schlünder eine Molkerei an, die dann am 25. Januar 1881 als „Dampf-Zentrifugen-Meierei Wimbern“ ihren Betrieb aufnahm. Zwei Bauern waren die ersten Milchlieferanten. Ihre Zahl erhöhte sich in den ersten vier Jahren auf 45.

Die Jahresmenge der in der Molkerei verarbeiteten Milch betrug:

JahrMenge
1881164.976 Liter
1882244.739 Liter
1883306.262 Liter
bis 1. Juli 1884167.340 Liter

Die Lieferanten erhielten für die Milch pro Liter 9,75 Pfennige; bei der damaligen Kaufkraft ein beachtlicher Preis, zumal 50 Jahre später – also im Jahr 1932 – im Durchschnitt ein Erzeugerpreis von 8,5 bis 9 Pfennig gezahlt wurde. Für die Herstellung von einem Pfund Butter wurden damals übrigens 15,9 Liter Milch benötigt (1965 rund zwölf Liter). Die Maschinen der Molkerei, insbesondere die Zentrifuge, wurden durch Wasserkraft betrieben – nur bei schlechten Wasserverhältnissen trieben diese eine Dampfmaschine an. Die Entrahmung der Milch erfolgte durch „Laval´sche Separatoren“.

Die entrahmte Milch wurde im Sommer ganz, im Winter teilweise, per Bahn nach Elberfeld-Barmen transportiert und dort durch die Meierei Wiemann & Schlünder verkauft. Die nicht verkaufte Magermilch wurde zu Backsteinkäse und Magerkäse nach Tilsiter Art verarbeitet und ebenfalls verkauft. Während der Sommermonate und bei schlechtem Milch- und Butterabsatz wurde auch Tilsiter Fettkäse hergestellt.

Bezeichnend für den Unternehmergeist des Christoph Schlünder ist, dass er sich entschloss, bereits im Jahr 1884 die Deutsche Molkereiausstellung in München mit seinen Erzeugnissen zu beschicken. Dort stellte er aus:

  • zwei Kisten mit Butter in Ein-Pfund-Stücken (in Pergament und Stanniol verpackt)
  • einen Kübel Butter
  • zwei Stück Tilsiter Käse fett
  • zwei Stück Tilsiter Käse halbfett
  • zwei Stück Tilsiter Käse mager
  • eine Kiste Backsteinkäse.

Die Molkerei unterhielt zu dieser Zeit übrigens neun Milchwagen und zehn Pferde, die in Elberfeld-Barmen beim Verkauf der Milch eingesetzt wurden. Durch die hohen Kosten, insbesondere durch den Absatz der Milchprodukte, ergab sich im Laufe der Jahre ein nicht akzeptabler Betriebsverlust.

Nach dem Tod von Christoph Schlünder im Jahre 1889 entschloss sich sein Sohn Christoph, den Molkereibetrieb an die kurz zuvor gegründete „ Molkereigenossenschaft Wimbern“ zum Preis von 25.000 Mark zu verkaufen.

Die Landwirtschaft befand sich in den Jahren um 1890 in einer schweren wirtschaftlichen Krise, die insbesondere durch die völlig ungenügenden Agrarpreise gekennzeichnet war und somit zu einer wirtschaftlichen Verelendung des Bauernstandes zu führen drohte. Es war immer schwerer geworden, die Milchprodukte lohnend abzusetzen.

Am 1. Mai 1889 trat das Genossenschaftsgesetz in Kraft. Es sollte den Weg zur Selbsthilfe in der Landwirtschaft ebnen und dabei helfen, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu meistern. Es ist bezeichnend für den Wagemut, den wirtschaftlichen Weitblick und vor allem für den ungebrochenen Unternehmergeist, dass gegen Ende des Jahres 1890 zunächst sieben fortschrittlich gesinnte Bauern die Molkerei-Genossenschaft Wimbern gründeten. Dies waren:

  • Christoph Schlünder (Wimbern)
  • Wilhelm Dieckmann (Wiehagen)
  • Julius Hesse (Wickede)
  • Paul Sümmermann (Gut Scheda)
  • Heinrich Pieper (Wiehagen)
  • Heinrich Hellmann (Wickede)
  • Bernhard Kree (Waltringen).

Am 19. Dezember 1890 wurden die ersten Statuten beschlossen. Auf dieser Grundlage trug das Königliche Amtsgericht Menden am 11. Februar 1891 unter der Nummer vier die Molkerei in das Genossenschaftsregister ein.

Die Molkerei-Genossenschaft kaufte also, wie schon genannt, für 25.000 Mark den Molkereibetrieb von Christoph Schlünder. Schlünder wirkte jahrelang in der Verwaltung als Mitglied des Vorstandes weiter mit. Die Molkerei strebte in erster Linie eine möglichst gute Verwertung der Milch an. Sie war eine Genossenschaft mit unbeschränkter Haftung; ihre Genossen hafteten mit ihrem gesamten Besitz und Vermögen für die Verbindlichkeiten.

Der erste Geschäftsanteil je Genosse wurde auf fünf Mark festgesetzt. Außerdem wurde ein „Eintrittsgeld von je einer Mark pro Kuh“ erhoben, das dem Reservefond zugeführt wurde. Ab dem 1. März 1891 betrug das „Eintrittsgeld“ sogar fünf Mark je Kuh. Die ersten Betriebsjahre der Molkerei waren schwer und sorgenvoll. 1895 wurde eine durchschnittliche Tagesanlieferung von rund 1500 Litern erreicht.

Nach dem Ersten Weltkrieg kam die Molkerei-Genossenschaft in den Sog der schweren offenen Inflation, die in Deutschland im November 1923 ihren Höhepunkt erreichte. Als die Geschäftsleitung der Molkerei die Abschlussbilanz zum 31. Dezember 1923 vorlegte, wies sie die Bilanzsumme von

1.237.506.034.472.511,03 Mark

aus, in Worten: eine Billiarde 237 Billionen 506 Milliarden 34 Millionen 472 Tausend 511 Mark und drei Pfennige.

Aus der Geschichte der Molkerei ist eine juristische Panne bekannt und interessant. Beim 1891 erfolgten Verkauf der damaligen Schlünderschen Privatmolkerei wurde bei der Grundbucheintragung über den Eigentümerwechsel nur eine kleine Parzelle von 1,33 Ar (die entspricht 133 Quadratmetern) eingetragen und nicht das gesamte Molkereigelände. Beim käuflichen Übergang des Schlünderhofes 1924 in den Besitz des Freiherrn von Boeselager wurde deshalb das gesamte übrige Molkereigelände mit den darauf stehenden Gebäuden rechtlicher Besitz des Freiherrn. Diese Panne wurde erst im Jahre 1928, also nach 37 Jahren, entdeckt, als für die Erweiterung der Molkerei Vermessungsarbeiten notwendig waren. Es war der großzügigen und großherzigen Einstellung des Freiherrn von Boeselager zu danken, dass er in einem notariellen Vertrag vom 12. März 1928 nachträglich die Auflassung des restlichen Molkereigeländes in den Besitz der Molkerei-Genossenschaft ohne jede finanzielle Vergütung genehmigte.

Die Zahl der Mitglieder, die im Gründungsjahr 1891 auf 72 Landwirte angestiegen war, blieb bis 1935 etwa gleich. Erst 1936 begann ein steiler Anstieg infolge der mit dem Reichsmilchgesetz von 1931 eingeführten Maßnahmen. Die höchste Mitgliederzahl wurde 1949 mit 1215 Landwirten erreicht.

1928/1929 zeigte sich, dass die betrieblichen Anlagen der Molkerei für eine ordnungsgemäße und wirtschaftliche Verarbeitung der anfallenden Milchmengen nicht mehr ausreichten und eine Modernisierung des Maschinenparks erforderlich war. Der größte Teil der dafür benötigten Mittel wurde von einigen Mitgliedern als Darlehen zur Verfügung gestellt. Die Kosten betrugen damals insgesamt 50.000 Mark.

Zur gleichen Zeit wurde die Pasteurisierung der Milch zur Lieferung als Trinkmilch nach Wickede und andere Orte eingeführt. Es wurde ferner eine neue Zentrifuge aufgestellt. Die bis dahin übliche Kühlung mit dem im Winter gewonnen Natureis aus dem Eiskeller der Molkerei konnte durch Aufstellung eines Kühlaggregates auf Elektrizität umgestellt werden. Der alte Eiskeller diente 1955 übrigens als Fundament für das neue Wohnhaus von Willi Korte.

Am 1. Dezember 1934 wählten Vorstand und Aufsichtsrat den Molkereimeister Bernhard Eickhof zum neuen Geschäftsführer. Molkereileiter vor ihm waren Karl Müller sen. (1891-1921) und Karl Müller jun. (bis 1934).

Nach der Einführung des Reichs-Milchgesetzes und der Milch-Marktordnung 1934 wurde der Milchanfall verstärkt erfasst. Wie schlagartig auch in der Molkerei Wimbern die Milchanlieferung anstieg, beweisen diese Zahlen:

JahrMenge
1933687.000 Kilogramm
19362.000.000 Kilogramm

Das sprunghafte Ansteigen der Milchanlieferung führte in der Molkerei Wimbern zu immer größeren Schwierigkeiten, weil die vorhandene Betriebskapazität für solche Milchmengen nicht mehr ausreichte.

Ende 1938 erfolgte die Verschmelzung der bis dahin bestehenden Milchlieferungsgenossenschaften Arnsberg und Neheim-Hüsten mit der Molkerei Wimbern als aufnehmende Genossenschaft, die ihren Namen in „Molkerei Ruhrtal eGmbH“ änderte. Die 1935 erfolgte Änderung der bis dahin gültigen „unbeschränkten Haftung“ in „beschränkte Haftung“ erleichterte auch den Beitritt der bisher der Genossenschaft fernstehenden Landwirte.

Die drei Genossenschaften wählten nach der Fusionierung eine paritätisch besetzte Verwaltung. Diese bestand aus folgenden Landwirten:

  • Vorsitzender des Vorstandes: Bernhard Luig (Waltringen)
  • Mitglieder des Vorstandes: Friedrich Schmidt (Herdringen), Josef König-Röhrig (Hellefeld)
  • Vorsitzender des Aufsichtsrates: Otto Rotthauwe (Warmen)
  • Mitglieder des Aufsichtsrats: Fritz Wenner (Wiehagen), Heinrich Korte (Dentern), Albert Plesser (Neheim-Hüsten), Josef Bauerdick (Kirchlinde), Freiherr Wennemar von Fürsteberg (Herdringen), Hermann Rath (Uentrop), Anton Brüggemann (Gut Wintrop), Ferdinand Flügge (Grevenstein).

Nach dem Zusammenschluss der Milchlieferungs-Genossenschaften mit der Molkerei Wimbern fiel so viel Überschussmilch an, die nicht als Trinkmilch verkauft werden konnte, dass ihre Verarbeitung zu Butter und anderen Erzeugnissen die Leistungsfähigkeit der Molkereianlage Wimbern allmählich überschritt. Gewisse Teilmengen der Überschussmilch mussten deshalb an die Molkerei Niederbergheim und an die Milchversorgung Dortmund abgegeben werden. Dies war später einer der entscheidenden Anstöße für den Molkereineubau in Neheim-Hüsten.

Neue Erweiterungspläne wurden diskutiert. Es zeigte sich dabei aber bald, dass der zunächst angedachte Ausbau der Molkerei in Wimbern unzweckmäßig war. Deswegen lehnte der damalige Milchwirtschaftsverband in Essen diese Pläne ab. Nach harten Auseinandersetzungen innerhalb der Milcherzeuger wurde Neheim-Hüsten als Sitz der neuen Molkerei gewählt. In der Generalversammlung vom 5. Dezember 1938 wurde der Neubau der Molkerei Neheim-Hüsten beschlossen. Die Maschinen- und Bauberatung des damaligen Milchwirtschaftsverbandes Essen wurde beauftragt, die notwendigen Vorarbeiten hierfür zu übernehmen.

Die Bauarbeiten begannen im September 1940. Die Inbetriebnahme der neuen Molkerei erfolgte bereits am 17. Januar 1942.

Damit war das Ende der Molkerei von Wimbern gekommen. Die Gebäude stehen auch noch im Jahre 2014. Es befindet sich dort ein mittelständischer Betrieb für Zweiradteile (Ernst Fehling GmbH & Co., Mendener Straße 1). Die Treppe am Haus und die Rampe, die seinerzeit zum Abladen der Milchkannen benutzt wurde, existieren auch heute noch.